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Erschienen in: Pflegezeitschrift 6/2024

01.05.2024 | Pflege Wissenschaft Zur Zeit gratis

Wenn der Schock anhält

verfasst von: Jenny Kubitza, Andrea Forster, Dr. med. Dominik Hinzmann

Erschienen in: Pflegezeitschrift | Ausgabe 6/2024

Zusammenfassung

Während der praktischen Einsätze erleben Auszubildende in der Pflege nicht selten Ereignisse, die belastend und potenziell traumatisierend sein können. In Folge dessen nehmen sie negative Veränderungen an sich wahr und zweifeln an ihrer Kompetenz. Sie wünschen sich daher professionelle und strukturierte Unterstützung, um solche Ereignisse besser bewältigen zu können. Wenngleich die positiven Auswirkungen von primär- und sekundärpräventiven Maßnahmen bei schwerwiegenden Ereignissen nachgewiesen sind, mangelt es derzeit noch an Konzepten, mit denen die Auszubildenden auf schwerwiegende Ereignisse vorbereitet und bei deren Bewältigung sie unterstützt werden.
Hinweise

Supplementary Information

Zusatzmaterial online: Zu diesem Beitrag sind unter https://​doi.​org/​10.​1007/​s41906-024-2625-9 für autorisierte Leser zusätzliche Dateien abrufbar.
Psychosoziale Unterstützung in der Ausbildung Schwerwiegende Ereignisse können nicht verhindert, doch der Umgang mit ihnen kann erlernt werden. Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen sollten sich der Relevanz von schwerwiegenden Ereignissen bewusst sein, denn Wissen und Kompetenz darüber verringern die Belastung der Betroffenen und vermindern das Risiko einer beruflichen Traumatisierung.
Jede zweite Pflegefachperson in Deutschland hat bereits einmal in ihrem Berufsleben ein unerwartetes und unerwünschtes Ereignis erfahren, bei dem sie selbst in Mitleidenschaft gezogen wurde und das sie traumatisiert hat (Stramnetz et al. 2021). Ereignisse wie Wiederbelebungsmaßnahmen, Gewalt von oder an Patienten oder der Abbruch von lebenserhaltenden Maßnahmen treten bereits in der pflegerischen Ausbildung auf. Auszubildende erleben überwiegend den gleichen beruflichen Alltag wie examinierte Pflegende, ihnen fehlt jedoch das Wissen und die Erfahrung, wie solche Ereignisse wirken und wie sie bewältigt werden (Dugué & Dosseville 2018; Gandossi et al. 2023; Garcia Gonzalez & Peters 2021). So berichten 61% der Auszubildenden, dass sie während ihrer klinischen Einsätze ein schwerwiegendes Ereignis erlebt haben (Kasten), und 40% geben an, dass sie von dem Ereignis langfristig betroffen und traumatisiert sind (Mathias & Wentzel 2017; Sung et al. 2018).

Info

Schwerwiegende Ereignisse für Pflegeauszubildende
  • Moralisch und ethisch schwierige Situationen z.B. Pflege am Lebensende oder lebenserhaltende Maßnahmen
  • Erleben von Leid, Tod und Trauer
  • Konfrontation mit Gewalt z.B. Fixierungen oder Beschimpfungen
  • Notfallsituationen wie Reanimationen oder Suizide
  • Schwierige Gespräche mit Patienten und Angehörigen
  • Ereignisse, die mit dem persönlichen Leben verbunden sind

Auswirkungen von schwerwiegenden Ereignissen

Auf ein schwerwiegendes Ereignis reagieren Auszubildende häufig geschockt, frustriert und traurig. Nicht selten fühlen sie sich schuldig, dass es zu dem schwerwiegenden Ereignis gekommen ist, sie schämen sich, wie sie auf das Ereignis reagieren und zweifeln aufgrund dessen an ihrer persönlichen und beruflichen Kompetenz (Hood & Copeland 2021; Loos et al. 2014; Sahay & McKenna 2023; Shorter & Stayt 2009). Sie vermeiden Situationen, die sie an das schwerwiegende Ereignis erinnern; dieser Stress kann zu Schlaf- und Konzentrationsproblemen, Flashbacks und Veränderungen im Essverhalten führen (Hood & Copeland 2021; Loos et al. 2014; Sahay & McKenna 2023). Auf Dauer können sich die Auszubildenen physisch und mental erschöpft fühlen, die Abwesenheitsraten nehmen zu und im schlimmsten Fall denken sie darüber nach, die Ausbildung abzubrechen oder brechen sie sogar ab (Garcia Gonzalez & Peters 2021; Sahay & McKenna 2023; Winter 2019).

Organisationaler und individueller Umgang mit dem Erlebten

Die Literaturübersichtsarbeiten von Sahay & McKenna (2023) und Basse-Sprung (2023) zu schwerwiegenden Ereignissen bei Auszubildenden in der Pflege berichten, dass es derzeit noch an strukturierten Konzepten fehlt, mit denen die Auszubildenden auf schwerwiegende Ereignisse vorbereitet werden und die sie bei der Bewältigung unterstützen. So fühlen sich Auszubildende sowohl von ihren Bildungseinrichtungen nur unzureichend auf solche Ereignisse vorbereitet als auch in den Praxiseinsätzen nach solchen Ereignissen kaum begleitet (Dugué & Dosseville 2018; Garcia Gonzalez & Peters 2021). Auszubildende kritisieren, dass sie nicht durch das Ereignis geleitet werden, ihnen der Eindruck vermittelt wird, dass ihnen die Kompetenz fehlt, um mit dem Ereignis umzugehen, sie teilweise sogar von dem Ereignis ausgeschlossen werden und das Ereignis nicht mit ihnen gemeinsam reflektiert wird (Hood & Copeland 2021; Loos et al. 2014; Winter 2019). Nur wenige Auszubildende trauen sich im Nachhinein, proaktiv auf eine ausgelernte Gesundheitsfachkraft zuzugehen und über das Ereignis zu sprechen. Die meisten von ihnen haben Angst, für ihre Gefühle verurteilt zu werden und verdrängen sie daher (Gandossi et al. 2023; Hood & Copeland 2021; Loos et al. 2014).

Relevanz von schwerwiegenden Ereignissen

Lange Zeit wurden schwerwiegende Ereignisse und deren Auswirkungen tabuisiert, nicht selten wurden in der Ausbildung Sätze wie „da musst du durch“ oder „du bist zu sensibel“ gehört (Krey 2003). Erst seit einigen Jahren beschäftigt sich auch die Forschung mit schwerwiegenden Ereignissen, deren Folgen und Bewältigung; 2020 hat sich hierzu „The European Researchers´ Network Working on Second Victims“ gegründet. Es fördert die Zusammenarbeit zwischen 38 Ländern, verschiedenen Disziplinen und Ansätzen. Auf der Webseite cost-ernst.eu stehen Materialien für Bildungszwecke, Forschung und die Implementierung von Maßnahmen in Gesundheitseinrichtungen zur Verfügung (ERNST 2020).
Als second victims werden Mitarbeitende im Gesundheitswesen bezeichnet, die direkt oder indirekt an einem unerwünschten Patientenereignis, einem unbeabsichtigten Fehler in der Gesundheitsversorgung oder einer Patientenverletzung beteiligt waren und davon negativ betroffen sind (Vanhaecht et al. 2022).
Second victims sind aufgrund der unverarbeiteten schwerwiegenden Ereignisse gestresst, was sich auf ihre Fehleranfälligkeit auswirken und somit die Patientensicherheit gefährden kann (Rall 2021). Um die Versorgungsqualität aufrecht zu erhalten, die Gesundheit der Mitarbeitenden zu fördern und einer beruflichen Traumatisierung entgegenzuwirken, sollten Gesundheitseinrichtungen ihre Mitarbeitenden bei der Bewältigung von schwerwiegenden Ereignissen unterstützen (Abb. 1). Dies wirkt sich positiv auf die Motivation der Mitarbeitenden aus, reduziert die Fehlzeitenquote und verhindert sowohl Ausbildungsabbrüche als auch Kündigungsabsichten (Basse-Sprung 2020; Mittermeier et al. 2023; Winter 2019).

Psychosoziale Unterstützung kann Traumatisierung verhindern

Eine langfristige Traumatisierung nach schwerwiegenden Ereignissen kann verhindert werden. Bereits die Bildungseinrichtungen sollten die Auszubildenden primärpräventiv auf solche Ereignisse vorbereiten; in den Lehrplänen sind bereits Kompetenzen zur Förderung der eigenen Gesundheit und Entwicklung aufgeführt. So sollten die Auszubildenden noch vor ihrem ersten praktischen Einsatz in vier bis sechs Unterrichtseinheiten lernen, was schwerwiegende Ereignisse sind, wie sie sich akut und langfristig bio-psycho-sozial auswirken und welche Strategien bei ihrer Bewältigung helfen (Basse-Sprung 2023; Hanson & McAllister 2017). Bei den Bewältigungsstrategien sollte auf bereits vorhandende Ressourcen der Auszubildenden zurückgegriffen werden. Wie sind die Auszubildenden bisher mit stressigen Situationen umgegangen und welche Maßnahmen haben sie als besonders hilfreich empfunden? Gemeinsam sollte erarbeitet werden, inwieweit diese Maßnahmen dazu beitragen, sich mit dem schwerwiegenden Ereignis auseinanderzusetzen oder sich von eben diesem abzulenken (Tab. 1). Auszubildende sollten zum einem das Erlebte würdigen, darüber sprechen, ihre Gefühle dazu zulassen und Trost suchen, zum anderen aber auch ihren Stress reduzieren, etwas Schönes und Kraft spendendes erleben, sich bewegen oder sich bewusst eine Pause gönnen. Ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Auseinandersetzung und Abstand sollte angestrebt werden (Hinzmann et al. 2022; Koll-Krüsmann 2016).
Tab. 1
: Prävention bei schwerwiegenden Ereignissen
Zeitpunkt
Maßnahmen
Primärprävention
Maßnahmen, die im Vorfeld möglicher schwerwiegender Ereignisse durchgeführt werden
Sekundärprävention
Maßnahmen, die bei/nach Eintritt eines Ereignisses stattfinden
_ Lehreinheiten zu schwerwiegenden Ereignissen (Erkennen von solchen Ereignissen, Wissen um Folgen und Coping-Strategien)
_ Teilhabe und Begleitung durch das Ereignis
_ Reflexionsgespräch zum Ereignis

Wissen, Kompetenz und Reflektion reduzieren Belastung

Der Unterricht zu schwerwiegenden Ereignissen sollte ebenfalls dazu genutzt werden, das Thema zu enttabuisieren und die Auszubildenden zu ermutigen, sich nach solchen Ereignissen kollegiale Unterstützung zu suchen (Gandossi et al. 2023; Loos et al. 2014). Praxisanleitende, Pflegefachpersonen oder Lehrende können hier erste Ansprechpersonen sein (Basse-Sprung 2023; Gandossi et al. 2023; Hanson & McAllister 2017; Loos et al. 2014; Mayer et al. 2022).
Die Unterrichte zu schwerwiegenden Ereignissen vermitteln Wissen und Kompetenz, was sich positiv auf die Wahrnehmung solcher Situationen auswirkt: Je mehr Gesundheitsfachpersonen über schwerwiegende Ereignisse wissen, desto geringer ist deren Belastung nach solchen Ereignissen (Krüsmann et al. 2008). So zeigte sich in einer Studie mit 297 Personen aus dem Rettungswesen, dass Personen, die eine Schulung zu schwerwiegenden Ereignissen erhielten, ein durchschnittliches Belastungsniveau von 9,85 hatten, während Personen ohne Schulung im Mittel eine Belastung von 14,25 hatten (ebd.). Auch wies eine Studie mit 197 Pflegenden und Hebammen im ersten Ausbildungsjahr nach, dass eine Bildungsmaßnahme zum Umgang mit stressigen Ereignissen zu besseren Bewältigungsstrategien führte. Auszubildende konnten vermehrt ihre Gefühle äußern (p= 0.002) und soziale Unterstützung beanspruchen (p= 0.06) (McCarthy et al. 2017). Wenn es zu einem schwerwiegenden Ereignis kommt, sollten die Auszubildenden von Gesundheitsfachpersonen durch das Ereignis geleitet werden. Auszubildende wünschen sich, dass sie von dem Ereignis nicht ausgeschlossen werden und konkrete Aufgaben zugewiesen bekommen. Dies stärkt bei den Auszubildenden das Gefühl, dass sie kompetent genug sind, um das Ereignis bewältigen zu können (Hood & Copeland 2021; Loos et al. 2014; Winter 2019). Im Anschluss an das Ereignis wünschen sie sich ein Gesprächsangebot, damit sie das Ereignis reflektieren und ihre Gefühle besprechen können (Hood & Copeland 2021; Winter 2019). Winter (2019) empfiehlt hierfür, Fragen zum Ereignis zu stellen:
  • Was ist in der Situation passiert?
  • Welche Gefühle werden in dir ausgelöst?
  • Welche Handlungen sind für deine Gefühle ausschlaggebend?
Das Gespräch sollte damit enden, dass die vorhandenen Ressourcen zur Bewältigung des Ereignisses besprochen werden und die betroffene Person darin gestärkt wird, diese Ressourcen auch zu nutzen (Hinzmann et al. 2022; Koll-Krüsmann 2016).
Eine vertrauensvolle Beziehung zum Gegenüber und das Gefühl von Verständnis wirken sich positiv auf die Verarbeitung des Ereignisses aus (Chachula 2021; Gandossi et al. 2023; Loos et al. 2014). Dabei ist es den Auszubildenden wichtig, dass sie wertfrei von dem Ereignis erzählen können. Wenngleich die Auszubildenden auch von dem Ereignis lernen wollen, sollten Schuldzuweisungen und Beschämungen vermieden werden (Hood & Copeland 2021; Sahay & McKenna 2003). Falls die Einrichtungen das Reflexionsgespräch nicht selbst durchführen können, sollten sie die Auszubildenden auf übergreifende psychosoziale Hilfsangebote hinweisen (Kasten Hilfsangebote). Eine gute Möglichkeit, um sich zum Ereignis, zur Bewältigung des Ereignisses sowie zu weiteren Fachstellen (z.B. Angebote der Unfallversicherungsträger) kostenfrei und telefonisch beraten zu lassen, bietet die HELPLINE von PSU-Akut e.V.; die HELPLINE hat zudem den Vorteil, dass die Auszubildenden dort anonym von dem Ereignis berichten können und durch speziell ausgebildete Gesundheitsfachpersonen sowie psychosoziale Fachkräfte begleitet werden (PSU-Akut e.V. 2024). Eine Studie mit 89 Pflegestudierenden kam zu dem Ergebnis, dass Studierende, die ein schwerwiegendes Ereignis mit ausgelernten Gesundheitsfachkräften besprochen haben, eher eine psychologische Genesung erfahren haben als Studierende ohne Reflexionsgespräch (Hood & Copeland 2021).
Die Implementierung von präventiven Maßnahmen in den Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen ist ein effektive Strategie, um Auszubildende, Lehrpersonen, Praxisanleitende und Gesundheitsfachpersonen für schwerwiegende Ereignisse zu sensibilisieren und so einer beruflichen Traumatisierung entgegenzuwirken.
Die umfangreiche Literaturliste finden Sie über das eMagazin der PflegeZeitschrift und auf springerpflege.de

Psychosoziale Hilfsangebote

Neben der HELPLINE von PSU hat das Bundesinstitut für Berufsbildung eine Deutschlandkarte entwickelt, in der aktuelle psychosoziale Angebote für Pflegeauszubildende in den verschiedenen Regionen Deutschlands aufgeführt werden (bibb k.A.)
PSU HELPLINE: 0800 0 911 912

Fazit

Pflegeauszubildende erleben regelmäßig schwerwiegende Ereignisse, die sich negativ auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden auswirken können.
Um eine berufliche Traumatisierung nach schwerwiegenden Ereignissen zu verhindern, sollten die Auszubildenden eine strukturierte psychosoziale Unterstützung erfahren.

Nutzen Sie Ihre Chance: Dieser Inhalt ist zurzeit gratis verfügbar.

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Anhänge
Metadaten
Titel
Wenn der Schock anhält
verfasst von
Jenny Kubitza
Andrea Forster
Dr. med. Dominik Hinzmann
Publikationsdatum
01.05.2024
Verlag
Springer Medizin
Erschienen in
Pflegezeitschrift / Ausgabe 6/2024
Print ISSN: 0945-1129
Elektronische ISSN: 2520-1816
DOI
https://doi.org/10.1007/s41906-024-2625-9

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